Ein unqualifizierter Kommentar von Benny Herbst zu den Spätlesen auf der VDP-Präsentation der Grossen Gewächse.
„Eine Spätlese ist nicht süß!“, wird mir an einem der Stände von einem großen Mann mittleren Alters erklärt, dessen dicke Oberarmmuskeln wie Berge aus den Ärmeln seines T-Shirts hervorragen. „Eine Trockenbeerenauslese ist süß! Eine Spätlese ist fruchtig!“ Ich wage es nicht ihm zu widersprechen. Das würde ich allerdings auch dann nicht wagen, wenn der Mann weniger respekteinflößend wäre. Schließlich bin ich alles andere als ein Weinkenner. Die meisten Menschen auf dieser Veranstaltung trinken schon länger, als ich atme, und vielleicht sogar mehr. Da lehnt man sich besser mit seiner Meinung nicht zu weit aus dem Fenster.
Andererseits habe ich in meinem Leben schon bergeweise Zucker gegessen. Wie der schmeckt, weiß ich: Süß. Und so schmecken auch die Spätlesen hier. Trotzdem sind sie nicht alle gleich, das muss man ihnen fairerweise zugestehen: Der eine Wein erinnert etwas mehr an Honig, der andere etwas mehr an einen Saft mit hohem Fruktosegehalt, der dritte an Sirup. Alles Worte, die man auch zur Beschreibung von Met verwenden könnte. Von süßem Met wohlgemerkt, denn Met ist ja vielfältig. Da muss man manchmal auf ganz andere Begriffe zurückgreifen, z.B. auf „würzig“ oder „herb“. Für die Spätlesen hingegen sind die wenigen Vokabeln, die man zur Beschreibung der verschiedenen Varianten von „süß“ benötigt, völlig ausreichend.
Aber selbstverständlich hat jener kräftige Weinkenner, der mit ein paar Worten und ein paar Gesten seiner muskulösen Arme meine Meinung vom Tisch fegt, nicht unrecht: Eine Spätlese braucht nicht süß zu sein. „Spätlese“ bedeutet lediglich, dass die Trauben erst ein paar Wochen nach der üblichen Weinlese gelesen werden. Durch die längere Reifungszeit haben sie einen höheren Zuckergehalt. Ob deshalb auch die daraus entstehenden Weine süß sind, dies hängt allerdings ganz vom Gärungsprozess ab. Der Zucker wird bei der Gärung durch Hefezellen in Alkohol umgewandelt. Je höher also der Zuckergehalt in den Trauben, desto mehr Alkohol kann die Hefezelle erzeugen (zumindest bis zu einer gewissen Grenze). Umgekehrt heißt das: Je mehr Alkohol erzeugt wird, desto weniger bleibt vom Zucker übrig. Es ist Sache des Winzers zu entscheiden, wie sehr er den Most durchgären lässt. Spätlesen bieten also einen großen Spielraum. Man kann daraus süße Weine machen, trockene Weine mit hohem Alkoholgehalt oder auch, wenn der Zuckergehalt hoch genug ist, Weine, die sowohl süß als auch stark alkoholisch sind. Bei der oben genannten Trockenbeerenauslese ist dies anders. Hier werden die Trauben durch Schimmelpilzbefall ausgetrocknet. Durch den Flüssigkeitsverlust ist der Zuckergehalt noch sehr viel höher als bei der Spätlese. So viel Zucker in Alkohol umzusetzen, damit ist die fleißigste Hefezelle überfordert. Deshalb hat der Mann am Stand Recht: Trockenbeerenauslesen sind süß, Spätlesen nicht unbedingt.
Das wiederum wirft die Frage auf: Warum schmecken die Spätlesen auf der Premiere des VDP 2014 dann trotzdem fast ausschließlich süß? Zugegeben, es gab Ausnahmen. Das Weingut Prüm etwa hat eine Spätlese zu bieten, für die auch mir das Wort „fruchtig“ nicht übertrieben scheint. Und die des Weinguts Stigler enthält zumindest im Abgang noch die Erinnerung an einen trockenen Riesling. Der Großteil der Spätlesen lässt einen aber mehr an Weingummi als an Wein denken. Das muss nicht unbedingt etwas Schlechtes sein, es ist schlicht Geschmackssache. Enttäuschend ist aber, dass mit den Möglichkeiten, die eine Spätlese bietet, nicht kreativer umgegangen wird. Fast scheint es so, als wollten die deutschen Weingüter etwas beweisen. Wenn sie schon eine Traube mit hohem Zuckergehalt hervorbringen, dann soll man das dem Wein gefälligst auch anmerken! Schon allein, um zu zeigen, dass man es kann. Wie gesagt, macht das die Spätlesen der VDP-Premiere nicht schlecht. Nur eben etwas langweilig.