Mein Kreuzzug zum Kohl

„Weißt du wohin du dir deine Brassica pflanzen kannst!?“

Julius Cäsar, leicht erbost zu Senator Crazfus*

(„Asterix bei den Belgiern“)

* Crazfus’ Kommentar “Ja. Er täte besser daran, Kohl anzubauen!” eine Seite später enthält einen Wortwitz, der nur im französischen Original zu verstehen ist. Es wird auf die Redewendung “aller planter les choux” (wörtlich “Kohl pflanzen gehen”) angespielt, was sinngemäß “in Rente gehen” bedeutet.

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Bei vielen primitiven germanischen Urvölkern waren die Worte für “Kohl” und “Macht” identisch.
Könnte ich mir zumindest vorstellen.

 

 

 

Mein Kreuzzug zum Kohl

 

Ein martialischer Titel. Und doch passend. Denn Kohl kommt selten still und friedlich daher, weder bei der Zubereitung, noch bei der Verdauung.

Bravo. Eine Pups-Anspielung, bereits im dritten Satz. Ich bin stolz auf mich.

Und auch das passt. Denn meine Liebe zum Kohl (lat. Brassica) ist eine einzige große, von Selbstüberwindung und Kasteiung geprägte Leistung, auf die ich gerne egostreichelnd und eigenschulterklopfend verweise. Nichts anderes, wird in diesem Artikel geschehen (Ach ja: Spoiler-Alert).

Ich gebe es ungern zu, aber ich war wie die meisten Kinder. Und wie die meisten Kinder habe ich Kohl gehasst. Hass ist ein starkes Wort. Ich habe ihn gehasst. Vielleicht nicht so sehr wie andere Kinder, mit nahostkonfliktmäßiger Unnachgiebigkeit. Oder so gekonnt wie das Kind in diesem Astrid-Lindgren-Hörspiel, das meine Schwester und ich damals besaßen; ein Kind, das bei Tisch auf die Frage „Möchtest du noch etwas Rosenkohl?“ mit beiläufiger Nonchalance „Nö, lieber tot sein.“ antwortete.

Aber ich habe das Zeug schon gehasst.

Blumenkohl. Er sah radioaktiv verseucht aus und er roch auch so. Zumindest roch Radioaktivität in der Vorstellung meines achtjährigen Ichs. Wirsing. Streng wie meine Mathe-Lehrerin und ungefähr genauso appetitlich. Rosenkohl. Rhetorische Frage: Warum sollte ich etwas essen, das roch wie bereits verdaut? Rotkohl. Ich aß ihn zwar, aber nur, wenn er bis zur Unkenntlichkeit gesüßt und mit Nelken zerschunden war und an Weihnachten zu Gans oder Ente gereicht wurde. Diese Beilage hatte mehr mit einem Dessert gemein als mit Gemüse und zählte daher nicht wirklich als Kohl. Eigentlich tut sie es auch heute nicht.

Es waren lange Prozesse, die mir den Kohl, dieses bäuerisch derbe und manchmal doch wieder feine Gemüse nahe brachten. Mal geschah es schleichend, dann wieder im Rahmen erbarmungsloser, an Folter grenzender Schocktherapie.

Die langsame Gewöhnung erfolgte beispielsweise im Herantasten an Blumenkohl. Wer wie ich als Heranwachsender den Luxus einer nicht berufstätigen Mutter genießen durfte, der kennt das: Du kommst mittags nach Hause, wirfst deinen Schulranzen in die Ecke, wirst freudig begrüßt, setzt dich an den Küchentisch und auf dem Herd dampft… Blumenkohl, das Letzte, was du in diesem Moment essen willst. Aber du hast wirklich Hunger. Und bist zu müde für eine Diskussion. Also kein Anfall, kein „Wie kannst du mir das antun, Mama? Wieso liebst du mich nicht? Was habe ich falsch gemacht? Woher kommt dieser Hass?“; du setzt dich hin, isst den Blumenkohl und irgendwann hat er dich. So beginnt es immer. Du gewöhnst dich daran. Ist ja gar nicht so muffig, wie er riecht. Eher leicht und in der richtigen Konsistenz sogar ganz lecker. Vielleicht hasst Mama mich gar nicht, obwohl ich ungeplant in ihr Leben geplatzt bin und ihre Träume von einer Musical-Karriere vernichtet habe. Und plötzlich findest du Blumenkohl gar nicht mehr so radioaktiv-verseucht-widerlich.

Wobei… Jetzt wo ich darüber nachdenke, kann es natürlich auch sein, dass ich bereits so sehr mit Kohl-Strahlung kontaminiert wurde, dass ich schlicht und ergreifend nicht mehr merke, wie widerlich das eigentlich alles ist und mittlerweile vermutlich sonstwas essen würde.

Apropos sonstwas! Wirsing. Hier war deutlich mehr Überwindung meinerseits erforderlich. Nicht umsonst habe ich ihn eingangs mit meiner Mathe-Lehrerin verglichen, auch wenn die optisch eher an einen Champignon erinnerte, was allerdings Stoff für einen anderen Essay bieten wird, wenn die Zeit reif dafür ist.

Meine früheste Erinnerung an Wirsing kann ich in einem Wort zusammenfassen: Brechreiz. Ich nahm, neugierig, was meine Mutter in der Küche an diesem ewigen Sonntagnachmittag im November wohl angestellt haben mochte, den Deckel von einem der zahlreichen Töpfe auf dem Herd. Unwillkürlich wich ich zurück. Eine Dampfwolke hatte mir höchst unsanft eine faulige Ausdünstung in die Nase getrieben, die von einer grünen, offenbar matschigen Substanz auszugehen schien. „Großer Gott, was ist das?“, wollte ich wissen. „Das ist Kohl. Wirsing.“, gab meine Mutter zurück und schloss den Topf wieder. „Wogegen wird es eingesetzt? Und warum steht es so nah an den Lebensmitteln?“, hakte ich nah, frühe investigativ-journalistische Neigungen offenbarend, die meine Mutter mit einem Küchenverweis quittierte. Später am Abendbrot-Tisch wurde ich gefragt, ob ich Wirsing einmal probieren wollte. Ich verneinte. Das ist insofern bemerkenswert, als ich in meiner Familie in dem Ruf stand, buchstäblich alles zu probieren, seit ich als Zweijähriger einmal in einem französischen Restaurant Schnecken bestellt hatte.

Erst vor wenigen Jahren kam ich in eine Situation, in der höfliches Ablehnen keine Möglichkeit mehr darstellte, denn meine damalige Freundin hatte gekocht. Es gab in Butter gebratenen Irgendwas an irgendwas anderem Fettigen. Mit Rahmwirsing. Rahm. Wirsing. „Der arme Rahm“, dachte ich zunächst. „Ich armer Rahm!“, dachte ich im nächsten Moment, als ich die stolze Miene meiner Freundin sah, die nun wirklich keine schlechte Köchin war. Fett ist Geschmacksträger und sie wusste es. In dem einen Jahr mit ihr nahm ich beträchtlich zu. Was soll ich sagen. Rahm.

Als wir uns an den Tisch setzten, wusste ich, es würde mit dem Kohl in meinem Bauch oder in Tränen enden. Augen zu, Würgreflex kontrollieren und durch. Und es war überraschend gut! Es war, als hätte es meine Kindheit nie gegeben. Und das war eine gute Sache! Als wir uns später trennten (der Rahm von dieser Beziehung war doch recht schnell abgeschöpft), wünschte ich mir meine Kindheit mit ihrer Sorglosigkeit und Gleichgültigkeit gegenüber Mädchen zurück, doch auch davon sollte besser an anderer Stelle oder wohl noch besser überhaupt niemals erzählt werden. Meine neu entdeckte Zuneigung zu Wirsing, mit oder ohne Rahm, erwies sich aber als weitaus unverbrüchlicher als alle meine Beziehungen und begleitet mich noch heute.

Kohl gehört zur Gattung der Kreuzblüter. Auch daherdie Einbeziehung des Wortes Kreuzzug in den Titel. Ein äußerst ärmliches Wortspiel, zugegeben. Aber mittlerweile liebe ich Kohl mit quasireligiösem Eifer und halte ihn für eine der besten Erscheinungen der kalten Jahreszeit. Würde morgen der Papst anrufen und sagen, ich solle für ein Kohlgericht Jerusalem befreien oder sonst etwas merkwürdiges tun, ich würde zumindest mal in meinen Terminplaner gucken.

Leider ist dieser Artikel schon derartig gewuchert, dass ich nicht mehr in gebührlichem Maße auf Kohlgewächse wie Raps oder Steckrüben eingehen kann. Ich muss jetzt nämlich in die Küche. Rosenkohl zupfen. Wenn man ihn in seine einzelnen, minuskülen Blätter zerlegt, wird das Gratin aromatischer. Ich empfehle zum Gratinieren einen österreichischen Bergkäse. Dazu einen leichten Weißwein. Aber notfalls geht das Ganze auch pur, mit etwas Kümmel und Pfeffer. Der Kümmel hält die eingangs erwähnten, geräuschvollen Verdauungserscheinungen in Grenzen. Aber das nur am Rand.